Schwarzgurt für einen Tag

 

Ein Kolibri hatte sich in den Vorraum des Schulgebäudes verflogen. Bei dem Versuch, seinem Gefängnis zu entfliehen, schoß er wild hin und her und sauste gegen die Schiebetür, die Flügel in rasendem Wirbel.
„Oh, du kleiner Vogel, hab keine Angst”, sagte der Lehrer ganz freundlich, als er in den Vorraum hinausging. „Sei ruhig, niemand wird dir weh tun. Halt nur einen Moment still, damit ich dir helfen kann!”
Der Lehrer begann eine sanfte Melodie zu summen, als er sich dem Kolibri näherte. Der Vogel hatte sich auf eine Hängepflanze gesetzt. Langsam ging der Lehrer zu der Pflanze und nahm den Vogel so vorsichtig wie möglich in die Hand.
In seiner Hand konnte er die gewaltige Energie des winzigen Vogels spüren, die Energie eines vibrierenden Lebewesens, das für einen Augenblick der Hand, die es gefangen hielt, zu vertrauen schien. Dies war reine, geballte Lebenskraft – ganz außerordentlich!
Er ging mit dem Kolibri hinüber zur Schiebetür und öffnete sie mit der freien Hand. Langsam hob er die Hand, die den Vogel hielt, und löste seinen sanften Griff. Der Kolibri verweilte noch einen Augenblick auf der Hand des Lehrers, bevor er mit erstaunlicher Geschwindigkeit wie ein Pfeil davonflog. In einem wahren Energiewirbel schoß er durch den Blumengarten neben der Schule hin und her und dann hinaus ins freie Feld.
Der Lehrer winkte dem Vogel zum Abschied nach umkehrte in den Raum zurück, in dem die Schüler saßen. „wer von euch möchte heute Schwarzgurt sein?”
Im ganzen Raum flogen die Hände in die Höhe und fuchtelten ganz aufgeregt in Erwartung eines so begehrten Ziels – jenes magischen, mächtigen Symbols, auf das sich der Ehrgeiz aller Kampfsportler richtet.
„Komm her zu mir, junger Mann”, forderte der Lehrer einen Jungen in der vordersten Reihe auf. Aus einem Beutel neben sich nahm er einen Gürtel und band ihn dem Schüler um. „Heute bist du Schwarzgurt für einen Tag. Jetzt wollen wir trainieren”, bestimmte der Lehrer.
Die Assistenten stellten alle Schüler zusammen mit dem neuen Schwarzgurt in Reihen auf. In der nächsten Stunde trainierten sie mit voller Kraft, besonders der junge Mann, der das neue Symbol seiner Stärke trug. Nach dem Training forderte der Lehrer alle wieder zum Sitzen auf.
„So, wie hast du dich gefühlt, junger Mann?” fragte er ihn und schaute ihm dabei in die Augen.
„Ich fühlte mich stark! Ein Gefühl als könnte ich gegen zehn erwachsene Männer kämpfen”, antwortete er voller Energie.
„Und was hat dir all diese Kraft gegeben?”
„Der schwarze Gürtel” erwiderte er stolz.
Der Lehrer stand auf, löste seinen Gürtel und hielt ihn in die Höhe. „Was seht ihr da?”
Auf seine Frage hin schossen viele Hände in die Höhe.
„Kraft!”
„Stärke!”
„Weisheit!”
„Energie!”
Alle riefen sie durcheinander.
Von ganz hinten meldete sich ein Junge: „Sensei, ich sehe bloß ein Stück schwarzen Stoff.”
„Und wo kommt diese große Kraft dann her, wenn dies bloß ein Stück schwarzen Stoff ist?” fragte er diesen Schüler.
„Aus unserem Geist, aus den Vorstellungen, die wir mit diesem Stück Stoff verbinden.”
„Und ist dies wahre Kraft, wahre Stärke, wahres Wissen?” fragte der Lehrer weiter.
Die Schüler saßen einen Moment lang still, bevor einer von ihnen antwortete: „Nein, Sensei, das ist leere Kraft, das ist falsches Wissen. In einem Stück schwarzen Stoff steckt keine Kraft.”
„Wozu trägt man dann einen Gürtel?” fragte der Lehrer.
„Um die Hosen zu halten”, rief einer der Schüler aus. Da lachten sie alle, daß ihnen die Tränen kamen.

 

Wie herrlich anzuschauen: durch das Loch im Papierfenster die Milchstraße.
Issa

 

Quelle: „Im Zentrum des Wirbelsturms. Erzählungen der Meister der Leeren Hand“  von Terrence Webster-Doyle